Ich begegnete den Skizzen zu Elgars dritter Symphonie erstmals am Ende von W H
Reeds Buch Elgar, wie ich ihn kannte. Die wichtigsten Passagen werden
dort als Faksimile wiedergegeben, und ich war sofort gefangen von der Kraft und Vitälitat
der Musik. Sie sprang buchstäblich aus der Seite, und obwohl die meisten Skizzen in
Particell standen mit nur wenigen instrumentalen Angaben, hörte ich sofort schon in meinem
Kopf Orchesterklänge.
Ich wußte, daß Elgar auf seinem Sterbebett ein Embargo über Versuche zur
Fertigstellung des Werks verhängt hatte, über das, was er "Pfuscherei" nannte; ich
meinte jedoch, daß mich dies nicht vom Grübeln über die Skizzen in meinen
vier
Wänden abhalten konnte und ging sie mit Hilfe von Reeds Schilderung durch, wie er sie auf
seiner Violine spielte, während Elgar am Klavier saß. Die Musik zeigte mir Elgar
scheinbar in inspiriertem Höhenflug und strafte die Meinung Lügen, daß er nach
dem Tod seiner Frau zu nichts mehr in der Lage gewesen sei.
Die Geschichte der Symphonie ist gut dokumentiert, es lohnt sich jedoch, die grundlegenden
Ereignisse noch einmal zu wiederholen. Elgars guter Freund George Bernard Shaw hatte
den Komponisten oft aufgefordert, eine dritte Symphonie zu schreiben. Anfang 1932 wiederholte
er sein Anliegen und meinte, daß sich die BBC vielleicht überreden ließe, sie in
Auftrag zu geben. Dieses Mal biß Elgar fast an. Er hatte kurz vorher Chopins
Trauermarsch orchestriert, und als ihn ein Kritiker fragte, ob der Rest von
Chopins Sonate sich zu einer Symphonie orchestrieren ließe, erwiderte er, daß er
lieber eine eigene schreiben würde.
Die Angelegenheit wuchs lawinenartig an: Zeitungen griffen die Geschichte auf, Shaw
überredete die BBC, und Elgar erwähnte, daß er die Symphonie "geschrieben"
habe, nachdem er diesbezüglich beim damaligen Three Choirs Festival ausgefragt worden
war. Komponisten können verschiedenes meinen, wenn sie behaupten, etwas "geschrieben"
zu haben, wir konnen jedoch vermutlich davon ausgehen, daß ein Großteil der
Symphonie bereits in seinem Gedächtnis verankert war. Was ihm nun fehlte, war die Zeit,
sie niederzuschreiben. Im Dezember verkündete die BBC dann offiziell, daß sie die
Symphonie in Auftrag gegeben habe, und von da an können wir davon ausgehen, daß
Elgar das Werk ernst nahm.
Während seines letzten Lebensjahres schrieb er Teile des Werks nieder. Manchmal war
es ein erweiterter Teil, manchmal nur eine Akkordfortschreitung, und Reed erzählt uns
von intensiven Sitzungen, die sie gemeinsam über der Symphonie verbrachten. Elgar habe
auf dem Klavier gehämmert und Reed angehalten, auf der Geige alles zu geben. Der
Komponist hatte eine außergewohnliche Arbeitsweise, er sprang von Satz zu Satz, wie
es ihm gerade gefiel. Es war, als forme er die Teile eines Puzzles, ehe er sie zusammenfügte.
Er hatte zum Beispiel manchmal Ideen außerhalb des Kontexts eines Tempos, und eine, klar
mit Scherzo überschrieben, fand sich schließlich im langsamen Satz wieder. Zur
gleichen Zeit wurden auch Themen aus früheren Jahren verwendet - zum Beispiel Ideen
für The Last Judgement, ein Oratorium, das nie das Licht der Welt
erblickte, und Episoden aus seiner Zwischenspielmusik für Laurence Binyons
historisches Drama Arthur, das er ein Jahrzehnt
zuvor komponiert hatte. Kritiker hielten dies der Symphonie entgegen, es gibt jedoch keine
überzeugenden Gründe, warum Ideen nicht auf diese Weise neu zugeteilt werden
können, besonders wenn sie so beeindruckend wie hier sind: diese Praxis findet sich schon
bei Bach und noch früher. Elgars geliehene Themen wurden Teil einer übergreifenden
Vision, zusammengeschmolzen durch die Intensität seiner kreativen Gedanken.
Leider war seine Mühe jedoch umsonst. Im Oktober 1933, nach einer Operation, wurde
Krebs festgestellt, und es ging schnell bergab. Er komponierte nicht mehr und starb im Februar
1934. Elgar hinterließ mehr als 130 Seiten von Skizzen für die unvollendete
Symphonie. Ich bin der Auffassung, daß diese Seiten die Vestiges eines inspirierten Werks
enthalten, dennoch fanden sie bis vor kurzem wenig Interesse. Elgars Beliebtheit nahm nach
seinem Tod ab, was zum Teil dafür verantwortlich ist. Aber selbst als die Skizzen
untersucht wurden, gab es wenige Einsichten.
Meine eigene Beschäftigung mit ihnen Ende 1972 führte nicht sofort zu
ernsthafter Arbeit. Die Betrachtung der Skizzen war bloß ein Hobby und Jahre solten
vergehen, in denen ich ihnen keine Beachtung schenkte. 1993 änderte sich dies jedoch.
Paul Hindmarsh von BBC Manchester rief an und fragte, ob ich daran interessiert
wäre, die Skizzen für eine Workshopaufführung zu ordnen. Ich war von der
Idee begeistert: jetzt würde ich gezwungen werden, meine Ideen zu ordnen und
systematisch die vielen Verbindungsglieder zwischen Skizzen und Erweiterungen von ihnen
niederzuschreiben, die mir im Laufe der Jahre eingefallen waren. Ich schenkte Pauls Einspruch
wenig Beachtung, daß die BBC zunächst die Erlaubnis für das Projekt von den
Besitzern des Copyright einholen müßte: in diesem erhebenden Augenblick vollendete
ich spontan das Scherzo, für welches die Skizzen das gesamte Material enthielten, und es
gelang mir dann, für das Adagio eine vollständige Exposition mittels eines
Puzzlespiels mit den Skizzen zu schreiben. Reeds Buch, das mir bei der Festlegung der
Reihenfolge der Ereignisse im Scherzo äußerst hilfreich gewesen war, nutzte mir
nichts für das Adagio. Er wußte scheinbar nicht, wie der Satz anfing, obwohl die
Skizzen es deutlich machen. Auch wußte er nicht, in welcher Reihenfolge die Hauptthemen
auftreten sollten. All dies mußte mittels Sachkenntnisse und Intuition ausgearbeitet
werden.
Die BBC hatte mir mittlerweile Photokopien der vollständigen Skizzen geschickt, die
in der British Library lagern, und ich stellte fest, daß Reed viele interessante Seiten
übersehen hatte. Mit dem Teil in meinen Händen und ermutigt durch ein Stück
der Durchführung, das ich in den vollständigen Skizzen gefunden hatte, sah ich
allmählich, wie ich das Adagio vollenden konnte. Ich kämpfte mich voran und
beendete den letzten Takt am 23. Februar 1994, mußte spater jedoch mit Schaudern
feststellen, daß dieser Tag der 60. Todestag des Komponisten war. Ich dachte damals,
daß ich alles erreicht hatte, was sich erreichen ließ, denn Elgar hatte nur die Exposition
und Rekapitulation des ersten Satzes niedergeschrieben, während es das Material des
Finales ermöglichte, die Exposition und nichts weiter zusammenzufügen.
All dies sollte bald jedoch nur von akademischem Interesse sein, denn die Familie Elgars, die
das Copyright an den Skizzen hatte, kam nach langem Überlegen zu dem Schluß,
daß sie die Arbeit an dem Projekt nicht länger dulden konnte. Sie war der Meinung,
daß der letzte Wille ihres Großonkels nicht mißachtet werden dürfte. Ich
hatte Verständnis für diese Entscheidung, war jedoch verständlicherweise
zutiefst enttäuscht. Ich hatte mich in die Symphonie vertieft, als wäre sie meine
eigene. Zu diesem Zeitpunkt steckte ich wieder alles in die unterste Schublade und dachte ziemlich
niedergeschlagen, daß ich wohl nie mehr zu der Symphonie zurückkehren
würde. Die Saga ging jedoch weiter. Die Familie sagte, sie hätte nichts gegen eine
Radiosendung über die Skizzen, solange nichts von meiner "Pfuscherei" erwähnt
würde. Ich nahm also im März 1995 ein Gespräch für die BBC auf. Es
erregte viel Aufmerksamkeit und überzeugte viele, die die Skizzen zunächst
unterschätzt hatten, davon, daß die Symphonie von höchster Qualität
geworden wäre. Ich fuhr nach der Aufnahme nach Hause und dachte, daß dies
wirklich das Ende der Geschichte wäre, das Schicksal wollte es jedoch anders. Am
nächsten Tag, als ich einen letzten Blick auf die Skizzen warf, ehe ich sie für immer
wegpacken wollte, entdeckte ich auf einmal den Schlüssel zur Vollendung des ersten Satzes
- was, wie ich gerade in meinem Gespräch gesagt hatte, ich fur unmöglich gehalten
hatte. Die Idee traf mich wie ein Blitz. Ich stellte fest, daß vier Seiten von schwach
umrissenen Bruchstücken, die ich zuvor nicht beachtet hatte, tatsächlich für
die Durchführung bestimmt waren. Ich stürzte mich gleich in die Arbeit und
vollendete die Durchführung und die verwandte Coda in wenigen Wochen. Trotz des Vetos
der Familie, meinte ich, es Elgar schuldig zu sein, soviel wie möglich fertigzustellen, solange
ich den Sinn dafür hatte. Vielleicht hätte die Nachwelt einen Platz für meine
Realisierung, obwohl die Umstände zur Zeit dagegen waren.
Wir schrieben jetzt Sommer 1995, und ich mußte die Symphonie beiseite legen,
während ich eine eigene Auftragsarbeit beendete. Nach der belebenden Erfahrung der
Fertigstellung des ersten Satzes, fühlte ich mich vielleicht erstmals in der Lage, die ganze
Symphonie zu vollenden. Es schien, als wären äußere Kräfte am Werk,
und wieder spielte das Schicksal mit. Die Familie Elgars begann, ihre Meinung zu ändern.
Es wurde ihr bewußt, daß die Skizzen bei Reed im Jahr 2005 sowieso nicht mehr
urheberrechtlich geschützt waren und es dann jedem möglich wäre, damit zu
"pfuschen", und so entschloß sie sich, die Sache in die Hand zu nehmen. Es dauerte einige
Monate, eh die Familienmitglieder sich einigen konnten, schließlich trafen sie jedoch die
einmütige Entscheidung, bei mir eine vollständige Fassung der Symphonie in Auftrag
zu geben. Im August fing ich dann an, all jenes in Partitur zu schreiben, was ich bis dahin
geschaffen hatte. Das heißt, die ersten drei Satze und den Anfang des Finales.
Während dieser Arbeit wurde ich mir der Bewegung der Symphonie weiter bewußt.
Sie unterschied sich wegen ihrer emotionalen Breite von Elgars anderen symphonischen Werken.
Es gab die rohe Kraft und magische Lyrik des Anfangssatzes, den Gebrauch einer leichteren Art
im zweiten, der weit über Elgars etablierte symphonische Praxis hinausging und die
brennende Intensität des Adagio von tragischer Bedeutung, während das Finale eine
Welt ritterlicher Handlung und Dramas enthüllte.
All dies ging mir durch den Kopf, als ich mich dem letzten und größten Hindernis
gegenübersah; Elgar hatte nirgendwo einen Hinweis hinterlassen, wie seine Symphonie
enden sollte. Ich mußte die gesamte Durchführung und die Koda komponieren, wie
im ersten Satz, jedoch ohne hilfreiche Tips, und mußte mir das endgültige Ziel des
Werks vorstellen - die schwierigste Aufgabe überhaupt, die visionärer Vorstellungen
bedurfte, wenn ich Elgars kreativer Kühnheit gerecht werden wollte. Es stand noch nicht
einmal fest, welche grundlegende Struktur Elgar für das Finale vorschwebte, obwohl ich
meinte, daß die Breite des erklärenden Materials in den Skizzen auf eine Sonatenform
hindeutete. Ich bereicherte die Skizzen, indem ich in die Durchführung ein
hinreißendes g-moll-Zwischenspiel einfügte, dessen Platz im Satz den Skizzen nicht
eindeutig zu entnehmen ist. In ihrer jetzigen Form scheint die Passage von einer Rondo-
Grundlage abgekommen zu sein, und bietet eine strukturelle Ambivalenz, die hoffentlich Elgars
symphonischem Denken würdig ist.
Was die abschließenden Seiten der Symphonie angeht, entschloß ich mich, alles
zu Ehren von Elgars Launenhaftigkeit zu wagen. Was, wenn er geplant hätte, die
unvergeßlichen Wiederholungen von Der Wagen zieht vorbei aus seiner
kurz zuvor erst vollendeten Kinder-Suite in
einen größeren symphonischen Kontext zu stellen? Das Hauptthema des Finales legt
eine solche Behandlung nahe und würde die Musik in eine neue visionäre Welt
führen, die die Jahre zwischen dem Tod des Komponisten und meiner versuchten
Rekonstruktion seiner Skizzen umspannen würde. Ich verließ mich auf meine Intuition
und schrieb einfach drauf los.
© Anthony Payne, l997
Der Komponist, Schriftsteller, Rundfunksprecher und Animateur Anthony Payne
ist einer der geschätzten Britischen Musiker seiner Generation. Er wurde 1936 in London
geboren und fing als Schüler mit Komponieren an. Nach seinem Musikstudium an der
Durham University machte er jedoch eine Periode künstlerischer Ungewißheit durch,
als er sich bemühte, die Innovationen der kontinentalen Avantgarde mit der Romantik
Britischer Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts wie Elgar, Delius
und Vaughan Williams zu verbinden, zu denen er sich hingezogen fühlte. Erst mit
der Fertigstellung der Phoenix Mass (1965-72) mit Anfang Dreißig
fühlte er endlich "das natürliche Auftauchen einer neuen Art, seit langem begehrt,
zuvor jedoch nur teilweise begriffen".
Seit jener Zeit entstand jedoch ein beachtlicher Katalog von mehr als 50 Werken in allen
Genres außer Oper. Neben seinen beiden großen Aufträgen für die BBC
Promenadenkonzerte - The Spirit's Harvest (1985) und Time's
Arrow (1990 - NMC D037S) - umfaßt sein Orchesterwerk die bemerkenswerte
Delius-Paraphrase Spring's Shining Wake (1981) und die autobiographischen
Orchestral Variations - The Seeds Long Hidden (1994). Seine Vokal- und
Kammermusik reicht von dem beeindruckenden konstruktivistischen
Streichquartett (1978) zu der launenhaften Fantasie des vielgespielten Sextetts
A Day in the Life of a Mayfly (1981). Dieses Sextett erscheint in August 1998,
mit anderen Kammerwerken von Anthony Payne, auf NMC D056.
Payne warb in den vergangenen Jahrzehnten weiterhin für Musikverständnis mit
einer Vielzahl von Aktivitäten: als Autor von Büchern über
Schönberg und Frank Bridge; als Musikkritiker für Daily
Telegraph, The lndependent und Country Life; er gab zahlreiche
Veröffentlichungen heraus, von Tempo bis zum New Grove Dictionary;
als Dozent an Universitäten in Australien und den Vereinigten Staaten; und, nicht zuletzt,
immer wieder als Rundfunksprecher. Neben jahrelanger Tätigkeit für die Society
for the Promotion of New Music berät er weiterhin das junge Ensemble Jane's
Minstrels, das er 1988 zusammen mit seiner Frau, der Sopranistin Jane Manning,
als praktischen Ausdruck seiner lebenslangen Hingabe an die Musik mitbegründete.
© Bayan Northcott, 1997
|
|