Elgar at the piano
ELGAR - HIS MUSIC
ELGAR/PAYNE
SYMPHONY No3
Einleitung von Anthony Payne

Ich begegnete den Skizzen zu Elgars dritter Symphonie erstmals am Ende von W H Reeds Buch Elgar, wie ich ihn kannte. Die wichtigsten Passagen werden dort als Faksimile wiedergegeben, und ich war sofort gefangen von der Kraft und Vitälitat der Musik. Sie sprang buchstäblich aus der Seite, und obwohl die meisten Skizzen in Particell standen mit nur wenigen instrumentalen Angaben, hörte ich sofort schon in meinem Kopf Orchesterklänge.

Ich wußte, daß Elgar auf seinem Sterbebett ein Embargo über Versuche zur Fertigstellung des Werks verhängt hatte, über das, was er "Pfuscherei" nannte; ich meinte jedoch, daß mich dies nicht vom Grübeln über die Skizzen in meinen vier Wänden abhalten konnte und ging sie mit Hilfe von Reeds Schilderung durch, wie er sie auf seiner Violine spielte, während Elgar am Klavier saß. Die Musik zeigte mir Elgar scheinbar in inspiriertem Höhenflug und strafte die Meinung Lügen, daß er nach dem Tod seiner Frau zu nichts mehr in der Lage gewesen sei.

Die Geschichte der Symphonie ist gut dokumentiert, es lohnt sich jedoch, die grundlegenden Ereignisse noch einmal zu wiederholen. Elgars guter Freund George Bernard Shaw hatte den Komponisten oft aufgefordert, eine dritte Symphonie zu schreiben. Anfang 1932 wiederholte er sein Anliegen und meinte, daß sich die BBC vielleicht überreden ließe, sie in Auftrag zu geben. Dieses Mal biß Elgar fast an. Er hatte kurz vorher Chopins Trauermarsch orchestriert, und als ihn ein Kritiker fragte, ob der Rest von Chopins Sonate sich zu einer Symphonie orchestrieren ließe, erwiderte er, daß er lieber eine eigene schreiben würde.

Die Angelegenheit wuchs lawinenartig an: Zeitungen griffen die Geschichte auf, Shaw überredete die BBC, und Elgar erwähnte, daß er die Symphonie "geschrieben" habe, nachdem er diesbezüglich beim damaligen Three Choirs Festival ausgefragt worden war. Komponisten können verschiedenes meinen, wenn sie behaupten, etwas "geschrieben" zu haben, wir konnen jedoch vermutlich davon ausgehen, daß ein Großteil der Symphonie bereits in seinem Gedächtnis verankert war. Was ihm nun fehlte, war die Zeit, sie niederzuschreiben. Im Dezember verkündete die BBC dann offiziell, daß sie die Symphonie in Auftrag gegeben habe, und von da an können wir davon ausgehen, daß Elgar das Werk ernst nahm.

Während seines letzten Lebensjahres schrieb er Teile des Werks nieder. Manchmal war es ein erweiterter Teil, manchmal nur eine Akkordfortschreitung, und Reed erzählt uns von intensiven Sitzungen, die sie gemeinsam über der Symphonie verbrachten. Elgar habe auf dem Klavier gehämmert und Reed angehalten, auf der Geige alles zu geben. Der Komponist hatte eine außergewohnliche Arbeitsweise, er sprang von Satz zu Satz, wie es ihm gerade gefiel. Es war, als forme er die Teile eines Puzzles, ehe er sie zusammenfügte. Er hatte zum Beispiel manchmal Ideen außerhalb des Kontexts eines Tempos, und eine, klar mit Scherzo überschrieben, fand sich schließlich im langsamen Satz wieder. Zur gleichen Zeit wurden auch Themen aus früheren Jahren verwendet - zum Beispiel Ideen für The Last Judgement, ein Oratorium, das nie das Licht der Welt erblickte, und Episoden aus seiner Zwischenspielmusik für Laurence Binyons historisches Drama Arthur, das er ein Jahrzehnt zuvor komponiert hatte. Kritiker hielten dies der Symphonie entgegen, es gibt jedoch keine überzeugenden Gründe, warum Ideen nicht auf diese Weise neu zugeteilt werden können, besonders wenn sie so beeindruckend wie hier sind: diese Praxis findet sich schon bei Bach und noch früher. Elgars geliehene Themen wurden Teil einer übergreifenden Vision, zusammengeschmolzen durch die Intensität seiner kreativen Gedanken.

Leider war seine Mühe jedoch umsonst. Im Oktober 1933, nach einer Operation, wurde Krebs festgestellt, und es ging schnell bergab. Er komponierte nicht mehr und starb im Februar 1934. Elgar hinterließ mehr als 130 Seiten von Skizzen für die unvollendete Symphonie. Ich bin der Auffassung, daß diese Seiten die Vestiges eines inspirierten Werks enthalten, dennoch fanden sie bis vor kurzem wenig Interesse. Elgars Beliebtheit nahm nach seinem Tod ab, was zum Teil dafür verantwortlich ist. Aber selbst als die Skizzen untersucht wurden, gab es wenige Einsichten.

Meine eigene Beschäftigung mit ihnen Ende 1972 führte nicht sofort zu ernsthafter Arbeit. Die Betrachtung der Skizzen war bloß ein Hobby und Jahre solten vergehen, in denen ich ihnen keine Beachtung schenkte. 1993 änderte sich dies jedoch. Paul Hindmarsh von BBC Manchester rief an und fragte, ob ich daran interessiert wäre, die Skizzen für eine Workshopaufführung zu ordnen. Ich war von der Idee begeistert: jetzt würde ich gezwungen werden, meine Ideen zu ordnen und systematisch die vielen Verbindungsglieder zwischen Skizzen und Erweiterungen von ihnen niederzuschreiben, die mir im Laufe der Jahre eingefallen waren. Ich schenkte Pauls Einspruch wenig Beachtung, daß die BBC zunächst die Erlaubnis für das Projekt von den Besitzern des Copyright einholen müßte: in diesem erhebenden Augenblick vollendete ich spontan das Scherzo, für welches die Skizzen das gesamte Material enthielten, und es gelang mir dann, für das Adagio eine vollständige Exposition mittels eines Puzzlespiels mit den Skizzen zu schreiben. Reeds Buch, das mir bei der Festlegung der Reihenfolge der Ereignisse im Scherzo äußerst hilfreich gewesen war, nutzte mir nichts für das Adagio. Er wußte scheinbar nicht, wie der Satz anfing, obwohl die Skizzen es deutlich machen. Auch wußte er nicht, in welcher Reihenfolge die Hauptthemen auftreten sollten. All dies mußte mittels Sachkenntnisse und Intuition ausgearbeitet werden.

Die BBC hatte mir mittlerweile Photokopien der vollständigen Skizzen geschickt, die in der British Library lagern, und ich stellte fest, daß Reed viele interessante Seiten übersehen hatte. Mit dem Teil in meinen Händen und ermutigt durch ein Stück der Durchführung, das ich in den vollständigen Skizzen gefunden hatte, sah ich allmählich, wie ich das Adagio vollenden konnte. Ich kämpfte mich voran und beendete den letzten Takt am 23. Februar 1994, mußte spater jedoch mit Schaudern feststellen, daß dieser Tag der 60. Todestag des Komponisten war. Ich dachte damals, daß ich alles erreicht hatte, was sich erreichen ließ, denn Elgar hatte nur die Exposition und Rekapitulation des ersten Satzes niedergeschrieben, während es das Material des Finales ermöglichte, die Exposition und nichts weiter zusammenzufügen.

All dies sollte bald jedoch nur von akademischem Interesse sein, denn die Familie Elgars, die das Copyright an den Skizzen hatte, kam nach langem Überlegen zu dem Schluß, daß sie die Arbeit an dem Projekt nicht länger dulden konnte. Sie war der Meinung, daß der letzte Wille ihres Großonkels nicht mißachtet werden dürfte. Ich hatte Verständnis für diese Entscheidung, war jedoch verständlicherweise zutiefst enttäuscht. Ich hatte mich in die Symphonie vertieft, als wäre sie meine eigene. Zu diesem Zeitpunkt steckte ich wieder alles in die unterste Schublade und dachte ziemlich niedergeschlagen, daß ich wohl nie mehr zu der Symphonie zurückkehren würde. Die Saga ging jedoch weiter. Die Familie sagte, sie hätte nichts gegen eine Radiosendung über die Skizzen, solange nichts von meiner "Pfuscherei" erwähnt würde. Ich nahm also im März 1995 ein Gespräch für die BBC auf. Es erregte viel Aufmerksamkeit und überzeugte viele, die die Skizzen zunächst unterschätzt hatten, davon, daß die Symphonie von höchster Qualität geworden wäre. Ich fuhr nach der Aufnahme nach Hause und dachte, daß dies wirklich das Ende der Geschichte wäre, das Schicksal wollte es jedoch anders. Am nächsten Tag, als ich einen letzten Blick auf die Skizzen warf, ehe ich sie für immer wegpacken wollte, entdeckte ich auf einmal den Schlüssel zur Vollendung des ersten Satzes - was, wie ich gerade in meinem Gespräch gesagt hatte, ich fur unmöglich gehalten hatte. Die Idee traf mich wie ein Blitz. Ich stellte fest, daß vier Seiten von schwach umrissenen Bruchstücken, die ich zuvor nicht beachtet hatte, tatsächlich für die Durchführung bestimmt waren. Ich stürzte mich gleich in die Arbeit und vollendete die Durchführung und die verwandte Coda in wenigen Wochen. Trotz des Vetos der Familie, meinte ich, es Elgar schuldig zu sein, soviel wie möglich fertigzustellen, solange ich den Sinn dafür hatte. Vielleicht hätte die Nachwelt einen Platz für meine Realisierung, obwohl die Umstände zur Zeit dagegen waren.

Wir schrieben jetzt Sommer 1995, und ich mußte die Symphonie beiseite legen, während ich eine eigene Auftragsarbeit beendete. Nach der belebenden Erfahrung der Fertigstellung des ersten Satzes, fühlte ich mich vielleicht erstmals in der Lage, die ganze Symphonie zu vollenden. Es schien, als wären äußere Kräfte am Werk, und wieder spielte das Schicksal mit. Die Familie Elgars begann, ihre Meinung zu ändern. Es wurde ihr bewußt, daß die Skizzen bei Reed im Jahr 2005 sowieso nicht mehr urheberrechtlich geschützt waren und es dann jedem möglich wäre, damit zu "pfuschen", und so entschloß sie sich, die Sache in die Hand zu nehmen. Es dauerte einige Monate, eh die Familienmitglieder sich einigen konnten, schließlich trafen sie jedoch die einmütige Entscheidung, bei mir eine vollständige Fassung der Symphonie in Auftrag zu geben. Im August fing ich dann an, all jenes in Partitur zu schreiben, was ich bis dahin geschaffen hatte. Das heißt, die ersten drei Satze und den Anfang des Finales. Während dieser Arbeit wurde ich mir der Bewegung der Symphonie weiter bewußt. Sie unterschied sich wegen ihrer emotionalen Breite von Elgars anderen symphonischen Werken. Es gab die rohe Kraft und magische Lyrik des Anfangssatzes, den Gebrauch einer leichteren Art im zweiten, der weit über Elgars etablierte symphonische Praxis hinausging und die brennende Intensität des Adagio von tragischer Bedeutung, während das Finale eine Welt ritterlicher Handlung und Dramas enthüllte.

All dies ging mir durch den Kopf, als ich mich dem letzten und größten Hindernis gegenübersah; Elgar hatte nirgendwo einen Hinweis hinterlassen, wie seine Symphonie enden sollte. Ich mußte die gesamte Durchführung und die Koda komponieren, wie im ersten Satz, jedoch ohne hilfreiche Tips, und mußte mir das endgültige Ziel des Werks vorstellen - die schwierigste Aufgabe überhaupt, die visionärer Vorstellungen bedurfte, wenn ich Elgars kreativer Kühnheit gerecht werden wollte. Es stand noch nicht einmal fest, welche grundlegende Struktur Elgar für das Finale vorschwebte, obwohl ich meinte, daß die Breite des erklärenden Materials in den Skizzen auf eine Sonatenform hindeutete. Ich bereicherte die Skizzen, indem ich in die Durchführung ein hinreißendes g-moll-Zwischenspiel einfügte, dessen Platz im Satz den Skizzen nicht eindeutig zu entnehmen ist. In ihrer jetzigen Form scheint die Passage von einer Rondo- Grundlage abgekommen zu sein, und bietet eine strukturelle Ambivalenz, die hoffentlich Elgars symphonischem Denken würdig ist.

Was die abschließenden Seiten der Symphonie angeht, entschloß ich mich, alles zu Ehren von Elgars Launenhaftigkeit zu wagen. Was, wenn er geplant hätte, die unvergeßlichen Wiederholungen von Der Wagen zieht vorbei aus seiner kurz zuvor erst vollendeten Kinder-Suite in einen größeren symphonischen Kontext zu stellen? Das Hauptthema des Finales legt eine solche Behandlung nahe und würde die Musik in eine neue visionäre Welt führen, die die Jahre zwischen dem Tod des Komponisten und meiner versuchten Rekonstruktion seiner Skizzen umspannen würde. Ich verließ mich auf meine Intuition und schrieb einfach drauf los.

© Anthony Payne, l997

Der Komponist, Schriftsteller, Rundfunksprecher und Animateur Anthony Payne ist einer der geschätzten Britischen Musiker seiner Generation. Er wurde 1936 in London geboren und fing als Schüler mit Komponieren an. Nach seinem Musikstudium an der Durham University machte er jedoch eine Periode künstlerischer Ungewißheit durch, als er sich bemühte, die Innovationen der kontinentalen Avantgarde mit der Romantik Britischer Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts wie Elgar, Delius und Vaughan Williams zu verbinden, zu denen er sich hingezogen fühlte. Erst mit der Fertigstellung der Phoenix Mass (1965-72) mit Anfang Dreißig fühlte er endlich "das natürliche Auftauchen einer neuen Art, seit langem begehrt, zuvor jedoch nur teilweise begriffen".

Seit jener Zeit entstand jedoch ein beachtlicher Katalog von mehr als 50 Werken in allen Genres außer Oper. Neben seinen beiden großen Aufträgen für die BBC Promenadenkonzerte - The Spirit's Harvest (1985) und Time's Arrow (1990 - NMC D037S) - umfaßt sein Orchesterwerk die bemerkenswerte Delius-Paraphrase Spring's Shining Wake (1981) und die autobiographischen Orchestral Variations - The Seeds Long Hidden (1994). Seine Vokal- und Kammermusik reicht von dem beeindruckenden konstruktivistischen Streichquartett (1978) zu der launenhaften Fantasie des vielgespielten Sextetts A Day in the Life of a Mayfly (1981). Dieses Sextett erscheint in August 1998, mit anderen Kammerwerken von Anthony Payne, auf NMC D056.

Payne warb in den vergangenen Jahrzehnten weiterhin für Musikverständnis mit einer Vielzahl von Aktivitäten: als Autor von Büchern über Schönberg und Frank Bridge; als Musikkritiker für Daily Telegraph, The lndependent und Country Life; er gab zahlreiche Veröffentlichungen heraus, von Tempo bis zum New Grove Dictionary; als Dozent an Universitäten in Australien und den Vereinigten Staaten; und, nicht zuletzt, immer wieder als Rundfunksprecher. Neben jahrelanger Tätigkeit für die Society for the Promotion of New Music berät er weiterhin das junge Ensemble Jane's Minstrels, das er 1988 zusammen mit seiner Frau, der Sopranistin Jane Manning, als praktischen Ausdruck seiner lebenslangen Hingabe an die Musik mitbegründete.

© Bayan Northcott, 1997


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